Obwohl ich Kälte und Schnee liebe, sehne ich mich gegen Ende des Winters doch nach Sonne, Wärme, grüne Landschaften und Barfußlaufen am Strand. Einen Strand habe ich zwar direkt vor der Haustür, aber der Frühling in der Finnmark lädt dieses Jahr nicht direkt zum Barfußlaufen und schon gar nicht zum Baden ein. Bewölkter Himmel, Temperaturen knapp über Null Grad, nasskaltes Wetter, Regen, heftiger Wind und noch kein einziges grünes Blatt an den Bäumen. Der Mai kann in der Finnmark oft genauso trist sein wie der November in Deutschland. Warum also nicht in den Süden fliegen und die seit langem vermisste Sonne besuchen?
Samos ist eine kleine griechische Insel vor der türkischen Küste. Nach der Ankunft in Pythagoreio fahre ich mit dem Bus in den Westen der Insel in die kleine Ortschaft Votsalakia. Dort werde ich eine Woche lang nicht nur Wärme und Sonne auftanken, sondern hoffentlich auch Zeit und Muße finden, um meine Gedanken zu sortieren, Pläne zu schmieden und Kraft für meine zukünftigen Projekte finden.
Ende Mai ist auf Samos noch Vorsaison und die Strände sind fast menschenleer. Mit Tages-temperaturen zwischen 20 bis 25 Grad und einer Wassertemperatur von 18 Grad fühlt es sich – zumindest für mich – sommerlich warm an. Den ersten Nachmittag habe ich daher den Strand fast ganz für mich alleine.
Am zweiten Urlaubstag entdecke ich am Ortsausgang von Votsalakia auf meiner morgendlichen Joggingrunde einen Wegweiser zur Höhle des Pythagoras. Sofort fallen mir endlose sinnentleerte Mathematikstunden aus der Schulzeit ein, Zahlenwirrwarr, kryptische Gleichungen und kilometerlange Formeln. Und wie viel von all dem habe ich bisher wirklich im Leben gebraucht? Wie oft muss ich mir im täglichen Leben Gedanken darüber machen, dass die Summe der beiden Kathetenquadrate flächengleich mit dem Quadrat über der Hypothenuse ist (a2+b2=c2)? Rein praktisch gesehen könnte ich dies gebrauchen, um mir auszurechnen wie lang eine Leiter sein muss, um sie auch ganz oben an der Hauswand anlehnen zu können, um z.B. das Haus anzustreichen. Aber wie oft im Leben streicht man nun wirklich ein Haus an? Mich würde die Reaktion des Verkäufers im Baummarkt interessieren, wenn ich ihm, statt die Länge der gewünschten Leiter zu sagen, die Höhe des Hauses mitteilen und den Satz des Pythagoras um die Ohren hauen würde.
Obwohl Pythagoras außer in jenen quälenden Mathematikstunden in meinem bisherigen Leben also keine wichtige Rolle gespielt hat, schaue ich mir am nächsten Tag doch den Ort an, an dem ihm vielleicht diese so wichtige mathematische Erleuchtung zuteil geworden ist. Von der Abzweigung kurz hinter Votsalakia bis zur Höhle des Pythagoras sind es etwa vier Kilometer und es führt ein breiter und leicht zu begehender Weg dorthin. Es geht beständig bergauf, da die Höhle am Fuße des Kerkis liegt, dem höchsten Berg auf Samos. Ein würziger Duft liegt in der Luft, der Ginster steht in voller Blüte und teilweise ist die Landschaft mehr Gelb als Grün.
Auf Samos ist Gelb aber nicht nur in der Natur eine vorherrschende Farbe, sondern ganz allgemein scheint man hier eine Vorliebe für diese Farbe zu haben.
Die letzten hundert Meter auf dem Weg zur Höhle des Pythagoras geht es über einen schmalen Pfad steil bergauf. Ob die Stufen auf den letzten Metern zur Höhle auch schon zu Pythagoras‘ Zeiten dort hinaufführten, wage ich allerdings zu bezweifeln. Der Höhleneingang ist groß und es ist nach dem schweißtreibenden Aufstieg dort angenehm kühl. Leider ist die Höhle nicht ausgeleuchtet, sodass man sich entweder sein eigenes Licht mitbringen oder sich im Dunkel vortasten muss.
Ich versuche mir vorzustellen wie es wäre, wenn ich hier so wie Pythagoras längere Zeit in der Abgeschiedenheit leben würde. Anfangs wäre das sicherlich erst mal ganz entspannend, auf lange Sicht würde ich aber wahrscheinlich auch anfangen, über unsinnige Dinge nachzusinnen. Wer weiß, auf welche Geistesblitze ich dann kommen würde mit denen sich alle Schüler dann noch Jahrhunderte später abplagen müssen. Diese Verantwortung möchte ich dann doch nicht übernehmen.
Vor dem Höhleneingang hat man eine kleine Kapelle errichtet. Da es aber keinen Platz für einen Glockenturm gab, hat man diese kurzerhand im nächsten Baum aufgehängt.
Am darauffolgenden Tag lasse ich mich auf der Suche nach den Besonderheiten der Insel ziellos durch die Gegend treiben. Weit außerhalb der Ortschaft finde ich ein altes verlassenes Hotel. Es liegt mitten in der Natur, weitab vom Lärm der Stadt und muss in seinen Glanzzeiten sicherlich recht schön ausgesehen haben. Eigentlich ein idealer Ort, um Ruhe und Entspannung vom stressigen Alltagsleben zu finden. Und genau das suchen die meisten von uns ja heutzutage. Allerdings muss man von hier aus fast einen Kilometer bis zum nächsten Strand laufen. Sicherlich war dies viel zu weit für die Mehrheit der heutzutage eher bewegungsallergischen Urlauber.
Samos ist mit einer Länge von 44 km und einer maximalen Breite von 19 km eine eher kleine Insel und man schafft es locker, diese an einem Tag mit dem Auto zu umrunden. Was mir bei dieser Rundtour auffällt ist die Tatsache, dass die Natur sauber und nicht zugemüllt ist, wie man dies sonst so oft im Süden von Europa sieht. Die Müllentsorgung scheint auf Samos also gut zu funktionieren. Allerdings scheint es auf der Insel keine offizielle Entsorgungsstelle für alte Autos zu geben. Überall stehen an den Straßenrändern oder irgendwo in der Natur alte ausrangierte Fahrzeuge, die man dort ihrem Schicksal überlassen hat. Das tiefrote Auto auf dem großen Bild wurde übrigens direkt neben dem farblich fast gleichen alten Hotel abgestellt, welches auf den vorherigen Bildern zu sehen ist. Immerhin scheint man auf Samos also einen gewissen Sinn für Farbästhetik zu haben.
Am letzten Urlaubstag leihe ich mir ein Fahrrad, um den Erkundungsradius etwas ausweiten zu können. Das Fahrrad selbst ist kein supersportliches Modell und ich bin dementsprechend langsam unterwegs. Nach einer Woche Urlaub ist aber auch mein Lebensrhythmus langsamer geworden und ich bin entspannter. Vielleicht liegt es aber auch an der zunehmenden Wärme tagsüber, dass ich so langsam vorankomme. Obwohl es erst Ende Mai ist, wird es inzwischen so warm hier, dass es besser ist, wenn ich wieder in den kühlen Norden komme.